GWTF-Jahrestagung in Kooperation mit dem
Institut für Soziologie der Eberhard Karls Universität
Tübingen, 21. und 22. November 2014

Leibmessen: Experimentelle Optimierung von Körper und Alltag

GWTF e.V.

 

Call for Papers (pdf) | Programm (pdf)

Organisation: Jörg Strübing, Jan-Hendrik Passoth.

Leibmessen: Experimentelle Optimierung von Körper und Alltag

Dass die Moderne sich der Optimierung des Lebens verschrieben hat und ihren Optimierungsimpuls auf den Körper ausgedehnt hat, wissen wir schon seit Hygienebewegungen, Breitensport und dem Boom kosmetischer Operationen. Dennoch kommen wir nicht umhin, in den letzten Jahren eine Steigerung zu bemerken.

Zum einen haben Praktiken des "Enhancements" und der Optimierung der Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers immens zugenommen. Die gezielte Modifikation einzelner Körperteile oder ihrer Funktionen reicht von der Optimierung des Schlafs oder des individuellen Verhältnisses von Körper zu Kaffee und Fettzufuhr bis zu Versuchen mit Cochlea-Implantaten oder mit unter die Haut implantierten Magnetplättchen, wie sie zum Beispiel die Mitglieder des Cyborgs e. V. auf ihren "plug'n'play" Treffen durchführen. Einige dieser Techniken haben ihren Ursprung in der medizinischen Prothetik, andere werden für den individuellen Körper und die jeweils eigene Idee neu entwickelt. Es scheint, dass eine Orientierung, wie wir sie aus dem Doping im professionellen Sport kennen, in alle Bereiche des Alltags importiert wird. Oder gibt es ganz andere Gründe? Andere Orientierungen?

Zum anderen ist die Rechenbarmachung des Alltags sprunghaft vorangegangen. Smartphones, Apps und erschwingliche Messgeräte mit Mikrosensorik erlauben immer differenzierte Messungen ‚am eigenen Leib'. Mit dem technisiertes Vermessen gepaart finden auch hier geradezu naturwissenschaftlich anmutende experimentielle Erkenntnispraktiken Verbreitung: Ernährungsselbstversuche zur Konzentrationssteigerung oder die Suche nach der perfekten Balance von Ausdauertraining und Kalorienzufuhr werden nicht nur am eigenen Leib durchgeführt, sondern ausgewertet, öffentlich dokumentiert und diskutiert. Ist das etwas anderes als das Fachsimpeln mit den Mittrainierenden im Fitnessstudio oder das Gewichtsvergleichen in der örtlichen Abnehmgruppe?

Die Vorstellung des "Besser-werden-Wollens", der Selbstoptimierung scheint für die, die ihren Körper verändern oder ihn vermessen, disziplinieren und technisieren, handlungsleitend zu sein. Sie ist anschlussfähig an eine Reihe gesellschaftliche Diskurse: Ratgeberliteratur zur Optimierung der beruflichen Leistungsfähigkeit wie der privaten Lebensführung, Selbstsorge-Diskurse über Gesundheit, Diskurse über Körperideale und zielführendes Ernährungsverhalten. Zugleich etablieren sich Formen der soziotechnischen Organisation, die diesen Praktiken Foren schaffen und die so sowohl als Treiber als auch als institutionelle Stimme kollektiver Vernunft wirken können. So mag ein Gewichtsverlust in der eigenen Diätgruppe einen Achtungserfolg bringen, wenn man aber vor dem Hintergrund des Wissens um das statistische Mittel aller Nutzer der gleichen Alterskohorte schlecht da steht, hat das mit der Selbstoptimierung offenbar trotzdem nicht geklappt.

Die Tagung wird von der Vermutung geleitet, dass die genannten Beispiele nicht nur Indizien für eine quantitative Zunahme von Optimierungspraktiken sind, sondern einen gesellschaftsweiten sozialen Wandel anzeigen: die Verlagerung von aktiver Optimierung, Messung und Kontrolle von gesellschaftlichen Instanzen in die Individuen selbst und damit zu neuen Verhältnissen von Technik, Körper und Wissen. Die Tagung will vor diesem Hintergrund zur Klärung folgender Fragen beitragen und lädt zur Einreichung entsprechender Abstracts ein:

  1. Welche neuen Formen der Selbstoptimierung lassen sich ausmachen, welche Formen der Organisation werden um sie herum eingerichtet und welche neuen Körper-Technik Koppelungen entstehen dabei?
  2. An welche relevanten Diskurse schließen die Debatten um die Optimierung des Körpers und die Optimierung des Alltags sinngebend an?
  3. Unterscheiden sich die Formen der Legitimation und Rationalisierung von denen anderer Praktiken im Rahmen dieser Diskurse?
  4. Macht es einen Unterschied, auf welchen Gegenstandsbereich sich das Messen, Auswer-ten und Optimieren bezieht? Ist die Optimierung des Körpers etwas anderes als die Optimierung von Produktivität und Freizeitaktivität?
  5. Welche Rolle spielen neue Technologien, insbesondere digitalisierter und vernetzter Art, für Praktiken der Selbstoptimierung? Unterscheidet sie sich von der Rolle der in der Tradition von Foucault beschriebenen Technologien des Selbst?
  6. Welche methodischen und methodologischen Herausforderungen sind mit der Untersu-chung dieser neuen Phänomene verbunden?
  7. Mit welchen Konzepten und mit welchen theoretischen Zugängen lassen sich die Phäno-mene der Selbstvermessung und -optimierung fruchtbar beschreiben?

 

Tagungsort:
Universität Tübingen
Wilhelmsstr. 36 (Hegelbau)
Raum 101
72074 Tübingen
Busse: Geschwister-Scholl-Platz bzw. Gmelinstr., Linien 1–7
Anmeldung: formlos erbeten per E-Mail an joerg.struebing@uni-tuebingen.de

 

Während der Tagung können Kinder von Referentinnen und Referenten betreut werden.
Die Betreuungskosten übernimmt die GWFT.

 

Freitag, 21.11.2014

10:30 - 10:50 Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema (Jan-Hendrik Passoth, München; Jörg Strübing, Tübingen)

Themenblock 1: Wissensformen

10:50 - 11:30 Uwe Vormbusch/ Karolin Kappler (Hagen):
Zahlenwissen und Körperdinge: Zur Ökonomie, Kultur und Praxis der Selbstvermessung

11:30 - 12:10 Stefan Selke (Furtwangen):
Lifelogging: Neue Wissensformen durch digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung in interdisziplinärer Perspektive

12:10 – 13:15 Mittagspause

Themenblock 2: Körpermodifikationen

13:15 - 13:55 Markus Spöhrer (Konstanz):
"More than human?": Soziotechnische Konstellationen des Cochlea Implantats zwischen Selbstoptimierung und kollektiver Dehumanisierung

13:55 - 14:35 Greta Wagner (Frankfurt a.M.):
Ist Neuroenhancement eine Strategie der Selbstoptimierung?

14:35 - 15:15 Sigrid Schmitz (Wien):
Welches Pillchen nehme ich denn heute - und wofür? Über den "Nutzen" von Ritalin, Prozak und Testosteron in der der Erfolgsgesellschaft

15:15 - 15:45 Kaffeepause

Themenblock 3: Biographie und Alter

15:45 - 16:25 Julia Schreiber/Niels Uhlendorf (Hamburg):
Zum Verhältnis von Optimierung, Biographie und Lebensführung

16:25 - 17:05 Alexander Seifert (Zürich):
Der ältere Mensch in Zeiten des digitalen Self-Monitoring: Mobile Research for Studying Daily Life

17:05 - 17:45 Cordula Endter (Hamburg):
Gedächtnistraining - Zur Optimierung einer Grauzone

18:00 Mitgliederversammlung der GWTF

Anschließend Gemeinsames Abendessen

 

Samstag, 22.11.2014

Themenblock 4: Selbstvermesser

9:00 - 9:40 Lisa Wiedemann (Hamburg):
Blackbox Körper – quantifizierte Körperpolitiken zwischen Prävention und Reaktion

9:40 - 10:20 Beate Kasper/Lisa Staiger (Tübingen):
Das vermessene Selbst - Praktiken und Diskurse digitaler Selbstvermessung

10:20 - 10:40 Kaffeepause

Themenblock 5: Selbstverhältnisse

10:40 - 11:20 Stefanie Duttweiler (Frankfurt):
Von der Beratung zum Self-Tracking. Wenn Selbstführung technisch wird

11:20 - 12:00 Markus Unternährer (Bern):
Self-Tracking als numerische Form der Selbstthematisierung

 

Zuletzt aktualisiert am 24.05.2018 [zum Seitenanfang] [Impressum/Datenschutzerklärung]